Die Urtica: eine heilige und verteufelte Pflanze
Manche bezeichnen sie als Unkraut und unwillkommene Pflanze, andere hingegen schätzen die Eigenschaften der Faser, als Lebensmittel und Medizin. Die Buchautorin Mechtilde Frintrup will die kulturelle Relevanz der Brennnessel hervorheben und aufzeigen, wie vielfältig diese wertvolle Pflanze in Wirklichkeit ist
Die Brennnessel kann als eine der unterschätztesten Kräuter der Naturwelt eingestuft werden. Ihre Entwertung lässt sich teilweise auf die Angst zurückführen, welche die schmerzhafte Berührung ihrer Brennhaare bei uns hervorruft. Ihre schnelle und unkontrollierte Verbreitung erinnert an Unkraut. Trotz dieses schlechten Rufs besass die Brennnessel bis vor einigen Jahrhunderten einen gewissen Status, denn sie war wichtiger Bestandteil von Medizintraktaten und wurde für die Faser- und Nahrungsgewinnung hoch geschätzt. Jene Verwendungsarten wurden z.B. von Hildegard von Bingen in ihren Büchern präzis beschrieben, wo die Brennnessel als Arzneimittel und lebendiges Tonikum beschrieben wird.
Wenn es eine Person im deutschsprachigen Raum gibt, welche die Vielseitigkeit der Brennnessel nachhaltig dokumentiert und vorgestellt hat, ist das ohne Zweifel die Autorin Mechtilde Frintrup. Ihr Werk „Das Brennnesselbuch“ fasst die kulturelle, künstlerische und botanische Dimension einer Pflanze, die auch Legenden, Mythen und Symbolen geprägt hat, zusammen. Blätter, Samen, Wurzeln, Stängel und Blüten lassen sich von den Menschen vielseitig verarbeiten, weisen einen hohen Nährwert auf und besitzen als Düngemittel zahlreiche Vorteile für Biobauer und Gärtner.
Brennhaaren einer kleinen Brennnessel in Siguas, Peru. // Brennnessel unter dem Vollmond. // Urtica urens nach der Ernte
In Südamerika wird die Brennnessel grundsätzlich zur Herstellung von Haarwaschmittel verwendet.
Kontinente durch die Brennnessel verbinden
Im Jahr 2021 trat ich in Kontakt mit Frintrup, als ich in meinem Feigenhain Brennnesseln entdeckte. Ich schickte ihr ein mehrere Mails, die sie ausführlich beantwortete. Zudem schickte sie mir ein Exemplar ihres Buches nach Peru. Das Brennnesselbuch erlaubte es mir, die Komplexität und den Reichtum dieser Pflanze zu erkennen und ihre unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten zu begreifen, die weit über die Urtifikationen –einem traditionellen Gebrauch der Brennnessel in einigen ländlichen Gebieten in Peru– hinausgehen.
Aber damit wird lediglich die physiologische Dimension dieser Pflanze abgedeckt. Hierzu gesellt sich ihre kulturelle Relevanz, sei es als Symbol von brennender Liebe, Anarchie, Widerstand und Willenskraft oder als Element von traditionellen Sagen und Märchen, welche die Brüder Grimm sammelten. Trotz ihrer unterschiedlichen Beiträge wurde die Brennnessel im Mittelalter verteufelt –zusammen mit anderen Pflanzen, die stimulierend wirkten– und ihre Verwendung bei der Bierherstellung untersagt. Jene Dämonisierung reicht bis in unsere Zeit. So verbat die französische Regierung im Jahr 2006 die Anwendung der Brennnesseljauche aufgrund der erfolgreichen Lobbyarbeit der Agrochemikalienhersteller. Dieses Verbot wurde 2011 glücklicherweise aufgehoben, wodurch die Herstellung und Vermarktung von Brennnesseljauche als hausgemachter Dünger fortan erlaubt war.
Brennnessel (urtica dioica) am Goetheanum in der Schweiz. // Hinterhof in Tarariras, Uruguay. // Agrarökologisches und Biodynamisches Zentrum in Rosario, Argentinien, wo die Brennnesselpräparat eine zentrale Rolle bei der ökologischen urbanen Landwirtschaft spielt.
Biodynamische Präparate bei dem Agrarökologischen Zentrum von Rosario, Argentinien, wo die Stadtlandwirtschaft direkt von der Stadtverwaltung gefördert wird. // Brennnesseljauche in einem Gemeinschaftsgarten in Soriano, Uruguay.
Die enge Beziehung zwischen Brennnesselpräparaten und urbaner Landwirtschaft kann in Rosario, Argentinien, beobachtet werden. Dank des Engagements von unterschiedlichen Sozialakteuren ist die ökologische Gärtnerei auf unterschiedlichen Arealen der Stadt ein wichtiger Bestandteil der Stadtgestaltung geworden. Die Ausbildung von „Huerteros“ spielt dabei eine wichtige Rolle, wobei die Brennnesseljauche ein wesentliches Element dieser selbständigen und agrarökologischen urbanen Landwirtschaft darstellt. Antonio Lattuca, Mitgründer unterschiedlichen Gemeinschaftsgärten in Rosario, hält Konferenzen und Vorträge über das Potential der urbanen Landwirtschaft und erwähnt im Zuge dessen die Vorteile von Wildkräutern wie der Brennnessel.
In Peru wird die kleine Brennnessel zur Linderung von Hüftschmerzen und Muskelkrämpfe verwendet. In den Hochgebieten wird die ganze Pflanze als eine Art Peitsche angewendet, um Rückschmerzen zu behandeln. In Europa ist die grosse Brennnessel verbreiteter und wird neuerdings auch zur Fasergewinnung verarbeitet. Die Heilkraft der Urtifikation ist, wie von Frintrup dokumentiert, im deutschsprachigen Raum auch bekannt. Dabei gehen die Meinungen zur Brennnessel auseinander: manche Menschen finden den Kontakt mit den Brennhaaren aktivierend und entspannend, andere Menschen verspüren beim Kontakt mit der Pflanze Schmerzen, die einige Stunden anhalten können. Deswegen empfiehlt Frintrup beim Experimentieren mit der Pflanze auch zu Vorsicht. Zur Linderung des Brennens gibt es zum Glück viele Wildpflanzen als Gegenmittel, der Pflanzensaft von Wegerich, Ampfer oder Labkraut hilft gut.
Die Brennnesselexpertin Mechtilde Frintrup während eines Spaziergangs in Burgstall, Baden Würrtemberg.
Die Brennnesseln sind reich an Proteine, Ballaststoffe und Mineralien. In den peruanischen Hochgebieten kennt man die Urtifikation als Behandlung für Rückschmerzen, obwohl solche Tradition fast in Vergessenheit geraten ist.
Urtica dioica als Wildpflanze in Burgstall.
Kräuterwanderungen in Burgstall
Im Februar konnte ich die Autorin schliesslich in Burgstall, Deutschland, persönlich kennenlernen. In ihrer Heimatregion bietet sie Workshops und Kräuterwanderungen an, in denen sie den Teilnehmern die Vorteile der Wildkräuter näherbringt. „Gärtner fühlen sich sogleich vom Brennnesseldünger angesprochen während bei städtisch lebenden Menschen die kulinarische Verwendung der Pflanze besonders gut ankommt. Die Heilanwendungen sind vielseitig und effektiv, das erwähne ich auch immer. Vielleicht sollte man die Pflanze einfach möglichst weit aussähen oder einpflanzen und das Wissen darüber nach und nach weitergeben”, sagt die Brennneselexpertin. Laut ihr konnte die traditionelle Anwendung dieser kräftigen Pflanze insbesondere in Osteuropa gut bewahrt werden, während es in Deutschland noch kein Allgemeinwissen ist.
Die meditative Verbindung mit der eigenen Umgebung begünstigt die Schärfung der Sinne und eine ganzheitliche Beobachtung von Naturvorgängen. „Die Natur ist für mich die schönste Kunst. Naturbelassene Orte mit Pflanzen und Tieren fördern die Wahrnehmung, die Sensibilität. Ich werde aufmerksamer und sensibler, wenn ich in der Natur bin und mit dem Material gestalte und möchte die Aufmerksamkeit anderer darauf richten mit meinem Tun. Durch das Anordnen von Naturmaterial in der Landschaft geht das gut und auch mit meinen Zeichnungen und Büchern möchte ich die Natur anderen, die danach suchen, näher bringen.“
Handgemachte Utensilien (Frintrups Werke) als Beispiel der Fassergewinnung. // "Das Brennnesselbuch" in Siguas, Peru.
Papel de ortiga elaborado por Frintrup. // Fibra de ortiga para elaborar textiles. // "El libro de la ortiga" sobre una higuera antigua.
Kurz vor meinem Abschied zeigte mir Frintrup die Vielfalt an Wildkräutern rund um Burgstall. Brennnessel, Löwenzahn, Schafgarbe, Gundermann, Wegerich, Beifuss, Mädesüß, Baldrian und viele andere Arten wachsen auf den hügeligen Boden von Wiese, Flussufer und Wald und bildeten eine essbare Landschaft, von der man profitieren kann. In ihrem Atelier verarbeitet die Buchautorin diese Geschenke der Natur in Form von Tinkturen und „beseelten Objekten“ wie das Brennnesselpapier, das ich mit viel Freude nach Peru mitbringen durfte.
Rezepte mit Geschichte
Das Brennnesselbuch sammelt auch zahlreiche Rezepte, die kulinarischen Reichtum beweisen. Meersalz mit zermahlenen Brennnesselsamen, Eintöpfe, Brennnesselpesto oder Brennnesselvollkornbrot sind einige Beispiele davon. Bei uns in Peru wird das Feigenbrot mit getrockneten Brennnesseln vermarktet, was vor allem von Konsumenten, die eisenhaltigen Biolebensmittel suchen, hoch geschätzt wird. Ebenfalls wird in Peru Vollkornbrot aus unseren alten Weizensorten gebacken. Das Hinzufügen von Brennnessel macht dieses Brot leicht würziger und erhöht deutlich seinen Nährwert.
Brennnessel und Gastronomie. 1) Feigenbrot mit Brennnessel. 2) "Pinxtos" aus marinierten Sardellen, Brennnesselpesto, getrockneten Feigen und Vollkornbrot. 3) Brennnesselspätzle. 4) Vollkornbrot mit Brennnessel. Die "Ortiga" kann sich an vielfaltigen Geschmacksrichtungen anpassen.
Ortiga y culinaria. 1) Pan de higo con hojas de ortiga seca. 3) Spätzle de trigo integral con extracto de ortiga. 4) Pan integral con hojas de ortiga. Seca, cocinada o aplanada pierde su carácter urticante y puede consumirse sin problemas.
An meinen Verköstigungen hat die Kombination aus marinierten Sardellen von der peruanischen Küste mit getrockneten Feigen, Vollkornbrot und Brennnesselpesto für reges Interessen beim Publikum gesorgt. Als Getränk bietet sich Brennnesselsaft, aromatisiert mit Ingwer, Honig und Zitronen, an. Feigeneintöpfe lassen sich ebenso mit Brennnessel bereichern: man füge einfach Brennnesselblätter zu getrockneten Feigen, welche für zwei Stunden bei milder Temperatur eingekocht wurden, hinzu. Das Ergebnis ist ein fester Sirup, der auch als Tonikum im Winter konsumiert werden kann.
Frintrups Werk ergänzt sich mit zahlreichen Posts auf ihrer Webseite, in welcher aktuelle Information zu Workshops und Kräuterwanderungen abrufbar sind. Ebenfalls ist sie als Künstlerin tätig. Frintrup porträtiert Wildkräuter und gestaltet „beseelte Utensilien“ mit der Brennnessel. Obwohl ihr Buch nur auf Deutsch verfügbar ist, verdient diese Arbeit eine baldige Übersetzung, was bei Brennnesselliebhabern der ganzen Welt auf grosse Begeisterung stossen würde.